Verlassen, düster, hoffnungslos: Virginie Despentes’ Roman «Vernon Subutex» ist die Geschichte eines Abgehängten. Jetzt ist sie als Graphic Novel erschienen.
Sarah Pines
Vom Bohémien zum Versager: Vernon Subutex irrt durch Paris.
Frankreich ist mehr als Paris, und Paris ist mehr als das erste Arrondissement: Kaufrausch und Bœuf Tatar verschlingende Touristen auf weinroten Bistro-Stühlen. Paris ist nicht nur duftend und vergoldet, sondern, wie in Saint-Denis, auch prekär und migrantisch. Oder es ist prekär und französisch-weiss, wütend auf die Eliten und an den eigenen enttäuschten Hoffnungen erschlafft. So wie Vernon Subutex.
Vernon ist der Protagonist der gefeierten Roman-Trilogie von Virginie Despentes. Sein Nachname bezeichnet ein Medikament zur Heroinsubstitution, Vernon war Punkrocker und Besitzer des Pariser Plattenladens Revolver. Und er war «cool», oder vielleicht eher: «hot». Frauen konnte er wahllos abschleppen, die gesamte Musikszene in Paris traf sich in seinem Laden, niemand versteht so viel von Punkrock wie Vernon.
Dann kam die Digitalisierung, Musik wurde online verkauft und heruntergeladen. Revolver ging pleite, und Vernon verkaufte das, was er noch besass, auf Ebay oder sonst irgendwo im Internet. Jetzt schreibt man das Jahr 2014, und Vernon hat nichts mehr. Der Gerichtsvollzieher hat seine Wohnung gepfändet und Alex Bleach, ein Freund von früher, der Rockstar wurde und Vernons Miete bezahlt hatte, ist tot. Vernon beginnt, alte, lange vernachlässigte Freunde aufzusuchen, die ihm helfen könnten. Manche sind wütend auf ihn, manche nicht. Manche helfen ihm, manche nicht.
Vernon Subutex ging mit seinem Pariser Plattenladen namens Revolver bankrott.
Die glorreichen Zeiten des Punkrock scheinen vorüber für Vernon Subutex.
Bunt wie alte Plattencover
In Frankreich wurde «Vernon Subutex» schon 2015 Kult, Virginie Despentes zur weitherum gefeierten Autorin. Nun ist «Vernon Subutex» wieder neu erschienen, in den dunkel-bunten Farben alter Plattencover, gezeichnet von Luz. Keinen anderen Zeichner als ihn habe sie sich für die Umsetzung ihrer Romane als Comic gewünscht, hat Despentes gesagt.
Luz, mit bürgerlichem Namen Rénald Luzier, ist ein Überlebender des islamistischen Attentats auf die Redaktion der Zeitschrift «Charlie Hebdo». Das Pariser Satiremagazin kämpft seit Jahren gegen Rassismus, Fanatismus und religiöse Bigotterie und veröffentlichte im September 2012 Mohammed-Karikaturen. Am 7.Januar 2015 erschossen zwei Brüder im Namen der Terrororganisation al-Kaida zehn Mitarbeiter der Zeitung mit Kalaschnikows, unter ihnen der Chefredaktor Charb.
Luz überlebte – aus reinem Zufall: Am Tag des Attentats hatte er Geburtstag, kam zu spät zur Arbeit. Er sah die Täter noch fliehen. Luz zeichnete das heute ikonische Titelbild der ersten Ausgabe, die nach dem Attentat erschien: Unter der Überschrift «Tout est pardonné» sitzt ein weinender Mohammed, in der Hand ein Schild, auf dem steht: «Je suis Charlie».
Punkrock, Sex und grosse Träume
Luz blieb bei «Charlie Hebdo», aber das Zeichnen fiel ihm zusehends schwer, die Angst vor dem leeren Blatt wurde zur Qual. Dann hört er auf. 2015 veröffentlichte er «Catharsis», 2018 «Indélébiles», beide Bände sind «Charlie Hebdo» gewidmet, dem Trauma und den glücklichen Zeiten davor. Seit 2015 lebt Luz an geheimen Orten. Virginie Despentes hatte er kennengelernt, als sie vor Jahren für ein Interview zum Thema Feminismus in die Redaktion des Satiremagazins kam.
Despentes und Luz’ Biografien sind so seltsam miteinander verknotet wie die der Figuren in «Vernon Subutex». Despentes arbeitete früher in einem Plattenladen, war Prostituierte. Ihr Roman «Vernon Subutex» erschien im Jahr des Attentats auf Charlie Hebdo. Beide, Luz und Despentes, zeichnen beziehungsweise schreiben roh, direkt. Aber immer voller Empathie mit den Desillusionierten, die sie schildern. Ohne Herablassung, aber nicht besonders «political correct».
Vernons Geschichte beginnt also damit, dass er alte Freunde aufsucht. Diese haben, wie es Vernons Nachname suggeriert, ihre Träume durch eine Art von Realität ersetzt, wie das Heroin durch einen Drogenersatz. Allerdings ist die Realität fader und weniger glänzend als die Vergangenheit aus Punkrock, Sex und grossen Träumen.
Frierend an der Haltestelle
Emilie, ehemals Bassistin der Punkband Nazi Whores ist eine biedere, fingernägelkauende Angestellte geworden, hat zugenommen, und Männer sind nicht mehr an ihr interessiert. Deborah, einst Pornostar, lebt nun als Mann und hat sich in seine beste Freundin verliebt. Xavier hat reich geheiratet und ist rechtsradikal geworden. Sylvie war einst heroinabhängig, dann wurde sie sportbesessen, nun verfällt ihr Körper, sie wird alt. Ihr einziger Lichtblick: ihr Sohn, mit dem sie sich dann doch immer streitet. Die Liste ist länger.
Das Alter kommt, Lebensglück und – im Fall von Vernon – Wohlstand bleiben aus. Die Entfremdung von der Gesellschaft wächst. Was dann?
In den 1870er Jahren schrieb Arthur Rimbaud sein Prosagedicht «Métropolitain». Die London Underground war bereits in Betrieb, die Pariser Metro befand sich noch in Planung. Ein Metropassagier führt durch ein imaginäres Paris. Es ist ein fast schon futuristisches Gedicht, die Geschwindigkeiten und schnellen Eindrücke verwischen sich, manche sind real, manche phantastisch, die kaleidoskopischen Visionen eines Betrachters.
In Rimbauds Gedicht erstreckt sich die Metro vom Zentrum bis in die Vorstadt, ober- und unterirdisch, bei Tag und bei Nacht, in geraden Linien. Während der Fahrt sieht der Passagier Schönes und Hässliches, «atroces fleurs», chic zurechtgemachte «princesses». Frauen, die versuchen, modisch-urban auszusehen, aber ihren Vorstadt-Look nicht ablegen können. Leute, Restaurants, Häuser ziehen vorbei, auf den letzten drei Zeilen ist der Strudel auf einmal zur Ruhe gekommen. Nach einer langen Nacht stehen das Ich und seine Begleitung frühmorgens frierend an einer Haltestelle und warten auf die Bahn.
Teure Latschen, feine Jeans
Luz’ Version von «Vernon Subutex» ist genauso wild und rasant wie das Gedicht «Métropolitain». Die Bilder führen durch alle möglichen Wohnungen und Begegnungen hindurch, in knalligen Farben. Manchmal gehen die Zeichnungen ineinander über, aus den geschlossenen Fensterläden des Revolver-Plattenladens werden die geschlossenen Lider Vernons, werden Erinnerungen.
«Vernon Subutex» beschreibt eine Jagd: Vernons verstorbener Freund, der Rockstar Alex Bleach, hatte vor seinem Tod eine Art Testament auf Video aufgenommen. Parallel zu Vernons Odyssee durch die Wohnungen alter Freunde findet im Internet unter dem Hashtag #subutex eine hektische Suche nach ihm und dem Videotape statt. Eigentlich hätte Vernon die Schnorrerei nicht nötig, das Video ist Gold wert.
Vernon ist ein Fremdling, einer, der nicht dazugehört. Wie zu seiner Zeit Rimbaud. Beide streunen durch Paris, Rimbaud nicht auf der Suche nach Geld, sondern nach Eindrücken, die er dichterisch verarbeiten konnte. In der Gegenwart angekommen, zeigt Despentes, und zeigt jetzt Luz mit seinen Zeichnungen von abgehalfterten Gestalten mit versehrten Gesichtern: Es ist nicht länger «in», klug, aber prekär in einer Grossstadt zu leben wie die meist jung verstorbenen französischen Künstler-Bohèmes und ihre ausgebeuteten Musen im 19.Jahrhundert.
Irgendwo schreibt Despentes über Vernon: «Man sieht ihm an, dass er keinen Cent mehr hat. Aber er ist noch nie im Geld geschwommen. Zu seiner Zeit stärkte das die Glaubwürdigkeit. Das war vor dem neuen Jahrtausend, heute trägt im Konzertpublikum jeder ganz selbstverständlich neue und teure Latschen, die richtigen Marken, die angesagte Uhr am Handgelenk, feine Jeans, die genau passen und deren Schnitt bezeugt, dass sie in diesem Jahr gekauft sind.»
So ist das heute. Das Elend hat die poetische Aura verloren, nachdem es den Künstler jahrzehntelang aufgewertet hatte, den echten zumindest, der seine Seele nicht verkauft hat: «Heute heisst es ‹Tod den Besiegten›, sogar beim Rock», so Despentes weiter. Armut ist nicht mehr chic. Man wird alt, der Glamour verfliegt. Vernon ist die ausgebeutete Muse der Gegenwart. Die alten Freunde brauchen von ihm höchstens noch Musiktipps.
Virginie Despentes, Luz (Illistration): Vernon Subutex. Aus dem Französischen von Lilian Pithan. Reprodukt-Verlag, Berlin 2022. 304 S., Fr. 54.90.
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